Free Jazz war kein Stil. Er war ein Sprengsatz. - Ein Gespräch zwischen Deviant Frequency und 33rpmPVC.de über Bruch, Suche und permanente Revolution - Nicht nur im Jazz...
Einleitung
Die meisten Musik will gefallen. Free Jazz wollte das nie. Er wollte etwas aufbrechen – und hat es getan. Ohne Rücksicht auf Erwartungen, ohne Angst vor Irritation, ohne Bedürfnis nach Harmonie im klassischen Sinn. Er hat Strukturen zerlegt, Gewissheiten erschüttert und die Grenzen dessen, was Jazz – und Musik insgesamt – sein darf, dauerhaft verschoben...
Im Gespräch mit |Deviant Frequency| spricht 33rpmPVC.de über Free Jazz als kulturellen Sprengsatz, über Peter Brötzmann und Albert Ayler, über das Prinzip von Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion – und über die Frage, ob echte musikalische Revolution heute überhaupt noch möglich ist...
Es geht um Grenzverschiebung. Um Suchbewegung. Und um Musik als Zustand permanenter Veränderung...
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„Free Jazz ist keine schöne Musik. Er ist ehrliche Musik.“
Deviant Frequency: Was macht Free Jazz für dich wirklich aus – jenseits von Theorie und Genre-Debatte?
33rpmPVC.de:
Zuerst einmal fehlt vielen die Melodie. Das ist oft der Punkt, an dem sie aussteigen. Wenn man aber aufmerksam bleibt, findet man sehr schnell Rhythmus und innere Struktur – nur eben nicht auf die gewohnte Art. Free Jazz ist fordernd. Anstrengend. Und extrem intensiv...
Wenn man sich darauf einlässt, kann er gleichzeitig befreiend wirken. Er ist keine „schöne“ Musik im klassischen Sinne. Er ist ehrliche Musik. Und genau deshalb ist er für mich so relevant...
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„Free Jazz war kein Stil – er war eine Intervention“
Deviant Frequency: Du bezeichnest Free Jazz nicht als Stil, sondern fast als Intervention.
33rpmPVC.de:
Für mich war und ist Free Jazz ein Sprengsatz. Er hat Dinge aufgebrochen, die später in andere Strömungen zurückgeflossen sind – auch in konventionellere Formen des Jazz. In dieser Hinsicht sehe ich eine klare Parallele zum Punk: musikalisch roh, aber kulturell und strukturell unfassbar wirksam...
Nach Free Jazz konnte niemand mehr ernsthaft behaupten, Musik müsse festen Regeln folgen. Er hat die Idee von Ordnung erschüttert – und Jazz entgrenzt...
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„Brötzmann und Ayler haben mich konfrontiert – und extrem gefordert“
Deviant Frequency: Welche Künstler stehen für dich exemplarisch für diesen Bruch?
33rpmPVC.de:
Peter Brötzmann und Albert Ayler. Beide haben mich stark konfrontiert. Da gibt es keine Glättung, keine Vermittlung, keine Schonung...
Ayler besitzt für mich etwas fast Spirituelles – wie ein archaisches Lied aus einer fremden Wirklichkeit, gleichzeitig unschuldig und verstörend. Brötzmann ist Energie, Wucht, reine Notwendigkeit. Bei beiden ist dieses permanente Suchen spürbar. Sie wussten nicht, wohin sie gingen – nur, dass sie dort, wo sie waren, nicht bleiben konnten...
Und genau dieses Moment interessiert mich...
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„Ich bewege mich weg von Genres – hin zu Ausdruck“
Deviant Frequency: Trotzdem hörst du nicht nur konfrontative Musik.
33rpmPVC.de:
Nein, sogar weit überwiegend nicht – und das halte ich auch für wichtig. Das Extreme braucht den Kontrast. Ich höre deutlich mehr Strukturiertes, Zugängliches. Aber meine Grenzen dehnen sich kontinuierlich aus. Innerlich bewege ich mich immer weiter weg von Genres – hin zu Ausdruck und Haltung...
Nach außen hin muss ich natürlich kategorisieren, allein schon durch meine Arbeit als Blogger und Rezensent. Aber im Kern sehe ich Musik immer mehr als einen zusammenhängenden Raum, nicht als Schubladensystem. Eine Erkenntnis, die lange gewachsen ist...
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Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion „Ohne Dekonstruktion keine Entwicklung.“
Deviant Frequency: Du hast diesen Prozess mit drei Begriffen beschrieben: Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion.
33rpmPVC.de:
Das ist für mich ein Grundprinzip – musikalisch wie existenziell. Erst entsteht eine Ordnung, dann wird sie hinterfragt und auseinander genommen, und schließlich setzt sich etwas Neues zusammen...
Genau das haben Free Jazz, Punk oder auch Hip-Hop getan. Sie waren keine reine Zerstörung, sondern notwendige Übergänge. Ohne Dekonstruktion keine Entwicklung...
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„Alles ist erlaubt – und genau das ist das Problem“
Deviant Frequency: Ist Hip-Hop für dich die letzte große musikalische Revolution?
33rpmPVC.de:
In vielerlei Hinsicht schon. Nicht nur musikalisch, sondern gesellschaftlich. Fragen nach Identität, Sprache, Sichtbarkeit, Macht – all das wurde plötzlich neu verhandelt. Und wie schon beim Jazz kam irgendwann die Akademisierung und die Vermarktung. Aber der ursprüngliche Riss bleibt bestehen...
Was ich im Moment eher wahrnehme, ist ein Überangebot. Ein permanentes Rauschen. Viele Mikro-Bewegungen, aber wenig, das wirklich etwas erschüttert...
Wenn alles erlaubt ist, fühlt sich nichts mehr wirklich verboten an. Und ohne Reibung kein Bruch...
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„Vielleicht wird die nächste Revolution leise sein“
Deviant Frequency: Hat die völlige Freiheit die Rebellion neutralisiert?
33rpmPVC.de:
Vielleicht. Möglicherweise wird die nächste echte Bewegung - sofern sie denn je kommt - nicht über Lautstärke und Schock kommen, sondern über Reduktion, Wahrhaftigkeit, vielleicht sogar Stille. Momentan sehe ich jedoch nichts derartiges. Aber vielleicht ist irgendwo schon etwas angestoßen, von dem man noch nichts mitbekommen hat. Ich will und kann nicht glauben, das hier nichts mehr kommt...
Viele sind heute zu voll, zu müde, zu abgelenkt - auch durch die beschleunigte Entwicklung in den sozialen Medien und der KI - um eine Lunte zu legen. Aber es gibt sie – die Suchenden. Die, die weitergehen, auch wenn es unbequem wird. Und vielleicht hat auch jemand ein Feuerzeug dabei...
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„Ich bin kein Musiker – aber ein Suchender“
Deviant Frequency: Und du siehst dich selbst als Teil davon?
33rpmPVC.de:
In gewisser [sehr bescheidener] Weise schon. Ich bin kein Musiker, aber ich bin ein suchender Hörer. Mein Geschmack wird eher mutiger als bequemer. Aber auch, ohne die Vergangenheit zu leugnen. In einer algorithmisch geglätteten Welt ist das vielleicht schon eine Form von Widerstand. Zumindest bilde ich mir das zur eigenen Beruhigung ein. Aber ich breche da keine Brücken ab und finde auch immer wieder zum Bewährten und demnach auch Bequemen - fast schon Konservativem zurück...
Mit 33rpmPVC.de will ich nicht einfach nur bewerten, sondern sichtbar machen, was Musik mit uns macht. Dies meine ich mit "Perspektiven auf Musik und Kultur". Sie soll nicht nur gefallen. Sie darf verunsichern, fordern, verändern - aber eben auch manchmal einfach nur schön sein und Spaß machen...
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Schlusswort
Deviant Frequency: Abschließend: Wo stehst du gerade – in Konstruktion, Dekonstruktion oder Rekonstruktion?
33rpmPVC.de:
Das Leben ist permanente Revolution auf unterschiedlichen Ebenen. Und auf diesen Ebenen kann ich gleichzeitig in allen drei Phasen stecken. Genau das ist Realität. Genau das ist Bewegung. Und genau darin liegt für mich Sinn. Auch und gerade in der Musik. Aber auch allem anderen, wofür Menschen sich interessieren...
[end]